Würde man die Weltweinproduktion mit einer Suppe vergleichen, wären Cabernet und Chardonnay die Bouillon. Nebbiolo, Tempranillo, Pinot Noir oder Riesling kämen als Gemüse dazu. Für die Würze jedoch sorgen die unzähligen, fast vergessenen und vor dem Aussterben geretteten Rebsorten aus allen Weinbaugebieten Europas. Von über 9.000 Rebsorten eignen sich mehr als 1.300 für den Weinbau. Damit bieten sie ein enormes Potenzial für die Gestaltung abwechslungsreicher Weinkarten.
(Bild: Claudia Link)
Josef-Marie Chanton gilt als Bewahrer alter Rebsorten. Auf seinen Parzellen rund um Visp pflanzte er Himbertscha, Lafnetscha, Plantscher, Gwäss und Eyholzer Roter – alles autochthone Oberwalliser Sorten. Heute wird sein Werk von Sohn Mario weitergeführt und neu interpretiert. So gelten Vater und Sohn Chanton mit ihren Raritäten gewissermassen als die Wegbereiter für Nischenprodukte und sind als solche unter Weinliebhabern bestens bekannt. Für Produzenten – aber auch für Weinhändler und Gastronomen – war der Zeitpunkt noch nie so günstig wie jetzt, in diesem vielfältigen und spannenden Bereich der Weinkultur aktiv zu werden. Aufgeklärte Weinliebhaber schätzen es, wenn Raritäten glasweise angeobten werden.
Nur gut ein Dutzend Rebsorten werden rund um den Globus angebaut. Tendenziell gleichen sich dabei die in grossen Mengen gekelterten Moste in ihrer Stilistik und dem Geschmacksbild. Wohl deshalb kehren Weinliebhaber den uniformen Sauvignon Blanc, Cabernet oder Merlot den Rücken zu und beginnen, sich für neu entdeckte alte Rebsorten zu interessieren. Dabei können sie aus dem Vollen schöpfen. Zahlreiche Provenienzen sind jedoch vorerst nur in homöopathischen Dosen erhältlich. Ein Beispiel dafür ist der «Grosse Arvine» von Olivier Pittet. Vom 2013er, dem ersten Jahrgang, hat der Winzer aus Fully ganze 72 Flaschen abgefüllt. Der Wein ist vielversprechend und die Geschichte spannend. So gab es im Jahr 2008 gerade noch vier Reben dieser alten Sorte, die aus einer Trockensteinmauer herauswuchsen. Angespornt vom Biologen und Rebengenetiker José Vouillamoz vermehrt Olivier Pittet die Reben und bepflanzt damit 2010 eine kleine Parzelle in Fully. Obwohl die Grosse Arvine in der Region Martigny einst von Bedeutung war und die prestigeträchtigsten Crus lieferte, muss Olivier Pittet seinen Grosse Arvine als Landwein klassieren. Denn die als verschollen geglaubte Sorte wurde aus der Liste der für AOC-Weine erlaubten Reben gestrichen. In den kommenden Jahren geht es nun darum, die besten Klone zu vermehren und von Viren befallene Pflanzen zu eliminieren.
Arvine und Grosse Arvine. (Bild: Olivier Pittet)
Erst kürzlich ist in einem Weinberg bei Savièse mit der Diolle eine weitere alte weisse Rebsorte entdeckt worden. José Vouillamoz kannte sie bisher nur aus der Literatur. Seine Genanalyse ergab, dass es sich um eine Kreuzung zwischen Rèze und einer unbekannten Sorte handelt. Begeistert über den Fund, hat er eine Parzelle mit Diolle bepflanzt.
Eine unbekannte Sorte hat auch der Katalane Josep Maria Albet i Noya im Rebberg seiner Grossmutter gefunden. Und dieser Fund entpuppte sich als Sechser im Lotto – El Gordo, wie die Spanier sagen würden. Denn die alte Sorte ergibt nicht nur aromatische, ansprechende Weine, sie weist auch eine hohe Widerstandskraft gegenüber Pilzkrankheiten auf. Wenn im biologischen Rebbau der Mehltau nicht mehr mit Spritzmitteln bekämpft werden muss, ist das von unschätzbarem Wert. Deshalb ehrte der Winzer seine Grossmutter und benannte die noch namenlose Sorte Marina Riòn.
Vermutlich warten noch Dutzende von Rebsorten in alten Anlagen darauf, entdeckt zu werden. Vor allem dort, wo einst im gemischten Satz verschiedene weisse oder rote Sorten nebeneinander angepflanzt und zusammen gekeltert wurden. Eine Praxis, die in schwächeren Jahren als Versicherung galt. Denn mindestens eine Sorte reifte immer voll aus und kompensierte so die Zuckerwerte von weniger reifen Trauben. So auch am Zürichsee. «Räuschling, Elbling und Completer, der auch am Zürichsee wächst und deshalb auch Zürirebe genannt wird, hatte man früher als «Gemischter» gekeltert», schreibt Cécile Schwarzenbach vom Weingut Reblaube in Meilen.
Von der Beobachtung zur Gen-Analyse
Unterschiede bei Rebsorten gleicher Farbe sind passionierten Beobachtern schon früh aufgefallen. So beschrieb Plinius der Ältere die wichtigsten italienischen Sorten in seinem auf 77 nach Christus datierten Werk «Naturalis Historia» (Botanik, Buch 12 bis 19). Im 1539 erschienenen «Kräuterbuch» notierte Hieronymus Bock seine Beobachtungen über vegetative Merkmale von Pflanzen, darunter zahlreiche Reben. Ein erstes Standardwerk verfassten die Franzosen Pierre Viala und Victor Vermorel. Ganze sieben Bände umfasst ihre 1901 bis 1910 erschienene Ampelographie. Darin beschreiben sie 5.200 Rebsorten und mehr als 500 davon illustrierten sie in Farbe. Die wissenschaftlichen Zeichnungen dienen bis heute regelmässig zur Bebilderung von Fachartikeln. Ab 1952 schuf der franösische Ampelograph Pierre Galet ein System zur Klassifizierung von Reben anhand objektiver Merkmale und beschrieb damit 9.600 verschiedene Sorten. Darunter auch Wildreben und Hybriden.
Chasselas doré (links) und Dureza, wie sie von Viala et Vermorel gezeichnet wurden. (Bilder: wikipedia)
Relativ neu ist das Gebiet der Genanalysen. 1996 entschlüsselte Carole Meredith, Professorin an der Universität von Kalifornien in Davis, mittels DNA-Analysen die Eltern von Cabernet Sauvignon (Cabernet Franc x Sauvignon Blanc). 2004 schliesslich trat der Schweizer Biologe und Rebsortengenetiker José Vouillamoz in die Fussstapfen von Carole Meredith. Als «Sherlock Holmes der Rebberge» durchkämmte der gebürtige Walliser seine nähere Umgebung. Dabei stellte er fest, dass die rare Oberwalliser Sorte Lafnetscha aus einer Kreuzung von Humagne Blanche und der Graubünden zugeordneten Completer entstanden ist.
Bis heute hat José Vouillamoz über 1.500 Rebsorten analysiert und in Zusammenarbeit mit Archäologen und Historikern deren Ursprung ermittelt. 1.368 Beschriebe haben Jancis Robinson, Julia Harding und José Vouillamoz im Buch «Wine Grapes» zusammengetragen.
Viele alte Sorten werden wieder gepflegt
Vergessene Rebsorten werden in allen Weinbauländern Europas wiederentdeckt. Grosse Reservoirs an autochthonen Sorten sind Länder, die lange Zeit abgeschottet waren wie Portugal, Bulgarien oder Rumänien. Auch in geografischen Insellagen wie dem Aostatal oder dem Wallis haben sich traditionelle Rebsorten halten können.
Oft sind es junge Winzerinnen und Winzer, die die Herausforderung annehmen, mit unbekanntem Traubenmaterial zu experimentieren. Dabei müssen sie sich ihr Wissen von Grund auf neu aneignen. Denn alte Rebsorten halten sich nicht an in Weinbauschulen gelehrte Regeln. Sie sind nicht auf geraden Wuchs, regelmässige Erträge oder grosse Beeren gezüchtet. Auch im Keller geben sich die einzelnen Sorten mitunter widerspenstig. Dass sie auf jeden Fall spannende und mitunter gar hervorragende Weine ergeben, zeigt die Auswahl auf in der Datei, die Sie hier herunterladen können. Opulent nach süssen Waldbeeren und Blumen duftend, würde man beim Lacrima di Morro d’Alba eher einen süssen Tropfen erwarten, nicht ein derart knochentroc kenes und tanninreiches, aber dennoch harmonisches Gewächs. Räuschling und Elbling – die einst als sauer galten und deshalb dem Riesling-Silvaner weichen mussten – präsentieren sich intensiv fruchtig und ausgewogen. Der Completer von Martin Donatsch, der Rèze von Serge Heymoz oder der Servagnin von Bolle sind etwas vom Besten in ihrer Klasse.
«Es braucht einiges an Überzeugungsarbeit, um einen Mayolet, einen Ruchè oder einen Lacrima di Morro d’Alba zu verkaufen», sagt Nicola Mattana von der Weinhandlung Buonvini in Zürich. «Auch wenn wir mit solchen Weinen keinen grossen Umsatz machen, sind sie trotzdem zu interessant, um einfach so aus dem Angebot gestrichen zu werden.» Die Preise zwischen 14 und 30 Franken seien für den glasweisen Ausschank in der Gastronomie jedoch sehr attraktiv.
Gabriel Tinguely für Hotellerie Gastronomie Zeitung, Ausgabe 19/15 vom 11. Juni 2015
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