Dass alkoholische Getränke und insbesondere der Wein wichtige und identitätsstiftende Kulturelemente sind, bestreitet kaum einer. Ebenso wenig, dass Alkohol, also Ethanol, ein schädliches Nervengift ist. Dennoch belegen statistische Auswertungen von Langzeitbeobachtungen, dass Alkohol in moderaten Dosen nicht zwingend schädlich ist. Auf diesen Erkenntnissen basiert die Initiative «Wine in Moderation», die gerade in weinproduzierenden Ländern der Europäischen Union stark ist. Doch nun wird der Widerstand grösser.
Dunkle Wolken brauten sich über der pittoresken Altstadt von Toledo (E) zusammen. Durchaus sinnbildlich für das Ansinnen der zahlreich angereisten Fachleute aus den Bereichen Wein, Food, Gesundheitswesen und Medizin. Während es draussen wie aus Kübeln zu regnen begann, konnten sich die Teilnehmenden des Kongresses «Lifestyle, Diet, Wine & Health» im Schutze des modernen Kongresszentrums sicher wähnen. Und das waren sie letztlich auch. Denn wie sich bald herausstellte, war man unter sich und gehörte klar zur Fraktion jener, die wissenschaftliche Faktizität vor Pauschalverurteilungen stellten und im moderaten Konsum von alkoholischen Getränken gesundheitliche Vorteile erspähten. Um das vollständig zu verstehen, braucht es eine kurze Erklärung.
Wine in Moderation
Schon in den 1990er-Jahren formierte sich eine wissenschaftliche Bewegung, die interdisziplinär die Folgen des Alkoholkonsums untersuchte. Nicht nur in Deutschland subsumierten sich Interessensgruppierungen unter dem eingängigen Slogan «Wine in Moderation» (Aufruf zum moderaten Weinkonsum) und alimentierten die alkoholverarbeitende Wirtschaft wie auch die zuständigen Behörden in ihren Ländern mit Fakten und Ergebnissen über Langzeitstudien (sogenannte «Global Burden of Desease Studies»). Denn was sie belegen konnten, war sensationell und überwand selbst den Widerstand vieler Mediziner (insbesondere aus den Bereichen Herz- und Kreislaufkrankheiten, der Mortalitäts- und Gesundheitsforschung), die sonst sehr vorsichtig mit Kausalitäten agierten. Bereits ab den 1960er-Jahren wurde ansatzweise beobachtet und später mit Korrelationen belegt, dass ein moderater Weinkonsum gewisse positive Folgen für den erwachsenen und gesunden Organismus zeitigt. In den 1990er- und den Nullerjahren vertieften eine Fülle von Untersuchungen dieses Bild. Im Gegensatz zum Rauchen, das bei jeder Menge schädlich ist, profitiert der Körper beim Wein offenbar von Stoffen, die insbesondere in Rotweinen vorhanden sind. Zu nennen sind hier Polyphenole, Anthocyane, Flavonoide sowie Resveratrol. Diese Stoffe kompensieren nicht nur die schädliche Wirkung des Alkohols (der immer ein Nervengift ist), sondern können sogar unter dem Strich für eine bessere Gesundheit sorgen, indem sie freie Radikale binden (damit die Krebsgefahr minimieren), die Thrombosengefahr und den Blutdruck senken, zudem auch das Gemüt aufhellen und den psychischen Zustand verbessern. Zwar schwankten die empfohlenen Mengenangaben noch zwischen 5 und 40 Gramm reinen Alkohols pro Tag, doch die Evidenz war klar: Im Bereich einer gewissen Menge (heute rät man zu max. drei Einheiten bei Männern und zwei bei Frauen) findet sich in praktisch allen namhaften Studien ein Phänomen, das man hernach als J-curve (J-Kurve) beschrieb. Es belegt den an und für sich erstaunlichen Umstand, dass abstinentes Leben ungesünder ist als ein moderater Konsum von Alkohol. Ausserdem widerlegten die Ergebnisse das alte Vorurteil, wonach ein regelmässiger (täglicher) Konsum auf alle Fälle schädlich sei.
Mediales Echo
Natürlich stürzten sich die Medien wie die Wölfe auf diese Erkenntnis. Dass der Alkoholkonsum nachgerade gesund sei, war doch eine Meldung wert. Doch die Feierlaune dauerte nicht allzu lang. Nicht wenige Gesundheitsapostel, Leute von Gesundheitsämtern sowie Institutionen und Vereinigungen, die den problematischen Alkoholkonsum schon seit Jahrzehnten anprangerten, fühlten sich herausgefordert. Und gemäss der alten Weisheit, wonach man keiner Statistik trauen solle, die man nicht selbst gefälscht hat, kam Gegenwind auf. Die Meta-Studien, die die günstige Aussage belegten, wurden nochmals durchleuchtet und siehe da: Es gab durchaus Potenzial für Zweifel an der Kernaussage. Erst recht, als man Gegenstudien in Auftrag gab. Jüngster Höhepunkt dieser Gegenbewegung war ein dieses Jahr abgedruckter Artikel in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet», der aufzeigte, dass jeder Tropfen Alkohol schädlich sei. Natürlich ging ein Aufschrei in wissenschaftlichen Kreisen um den Erdball und aufgrund vieler Protestzuschriften gingen die Verantwortlichen nochmals über die Bücher und relativierten die Zusammenhänge. Die J-Kurve war fürs Erste gerettet, doch der Widerstand war beileibe nicht gebrochen. Besonders die nicht irrelevante World Health Organization (WHO), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen (UNO), scheint immer weniger gewillt zu sein, die positiven Eigenschaften moderaten Alkoholkonsums zu akzeptieren. In ihren Gremien hat sich anscheinend, wie berichtet wird, eine starke Allianz von fast esoterisch-agierenden Alkoholgegnerinnen und -gegnern eingenistet, die alles unternehmen, um das Postulat des gesunden Konsums zu stürzen. In diesem Sog stemmen sich auch erste Länder in der EU gegen den moderaten Konsum. Gerade das in früheren Jahrhunderten alkoholgebeutelte Irland erliess trotz Unvereinbarkeit mit der EU-Gesetzeslage das Dekret, wonach auf Wein- und Spirituosenetiketten Warnhinweise angebracht werden müssen. Und weitere Restriktionen werden befürchtet.
Mediterrane Ernährung
Im eingangs erwähnten Kongress, der vom 20. bis zum 22. Oktober 2023 im mittelalterlich anmutenden Toledo (70 Kilometer südwestlich von Madrid) über die Bühne ging, war die J-Kurve nur Ausgangspunkt vieler weiterer Forschungsansätze. Besonders das weltweit angewandte Prinzip der mediterranen Ernährung («mediterranean diet») kann sich auf gesundheitsfördernde Eigenschaften von gewissen Lebensmitteln berufen, die besonders im Süden Europas zum Alltag gehören. Gerade Olivenöl, Getreide, Fisch, (Baum-)Nüsse und Gemüse gehören hier dazu, aber eben auch – und deshalb passt das gut ins Bild – der Wein. Der als Essensbegleiter fungierende Rebensaft ist untrennbar mit dem Lifestyle der mediterranen Länder verbunden. Selbst für die Gesundheitsministerien der südlichen Länder und erst recht für die weinproduzierende Wirtschaft ist «Wine in Moderation» daher ein identitätsstiftendes Element. Umso erstaunlicher, dass selbst in diesem Kontext vor verschärfenden und den Alkohol verteufelnden Tendenzen gewarnt wird.
Mehr Gegenwind
Bilanzierend braucht man weder Ärztin noch Statistiker zu sein, um prophezeien zu können, dass die Diskussion, was ein gesundes Leben sei, immer schärfer geführt werden. Gerade weil statistische Korrelationen keine Kausalitäten sind, wird die Interpretation der Zahlen zunehmend zur Glaubensfrage. Mit anderen Worten toben hinter den Kulissen vieler staatlicher und auch überstaatlicher Institutionen (wie z.B. WHO) letztlich Grabenkämpfe unterschiedlicher Lobbygruppen. Im Moment stehen die Zeichen eher auf Sturm als auf Entspannung. Will heissen, die Tendenz, Alkohol wie Tabak zu behandeln, steigt in vielen Ländern, die bislang eher moderat agiert hatten. Dies gilt insbesondere auch für die EU. Somit wird es immer schwieriger, Alkohol zu vermarkten und zu verkaufen. Viele rechnen für Europa und mithin auch die Schweiz, dass bald gefordert wird, neben den Nährwerten auch Warnhinweise anzubringen, die über das gewohnte «enthält Sulfite» hinausgehen. Dass für Kinder und Schwangere Alkohol tabu ist, dürfte einfach zu begründen sein, dass aber alkoholische Getränke immer und kausal zu gesundheitlichen Schäden bei gesunden Erwachsenen führen, ist schlicht nicht haltbar. Dennoch wird es immer salonfähiger, dies zu behaupten. Somit rückt Alkohol sehr nahe an den nachweislich schädlichen Tabakkonsum heran und gerät ebenfalls unter Generalverdacht. Das muss allen, die im weitesten Sinn mit Alkohol ihr Geld verdienen, bewusst sein.
(Quelle: Markus Matzner, Obst+Wein Ausgabe 17/23)
An einem Online-Seminar der Deutschen Weinakademie (17. Juni 2020) stellte Prof. Dr. Nicolai Worm die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Wein und Gesundheit vor. Von besonderem Interesse war die Frage, ob die J-Kurve weiterhin aktuell ist.
Der Ernährungswissenschaftler liess keinen Zweifel daran, dass die J-Kurve weiterhin stimmt und damit Weinkonsumenten mit moderatem Trinkmuster geringere Risiken haben als Abstinente, aber auch als diejenigen, die regelmässig zu viel trinken. Seit mehreren Jahrzehnten zeigen Studien, dass ein moderater Weinkonsum zu einem geringeren Risiko an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und einer allgemein höheren Lebenserwartung führt.
Diskutiert wird nicht mehr über den Verlauf, sondern um den tiefsten Punkt der Kurve, also bei welcher Dosis findet man die grössten Effekte. Ebenso werden die Verläufe bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel Männer und Frauen sowie bei verschiedenen alkoholischen Getränken untersucht.
Vergleich mit dem Rauchen
Die WHO und andere Gesundheitsorganisationen machen keinen Unterschied zwischen Rauchen und Alkohol, trotz klarer Studienergebnisse. Er machte nochmals deutlich, dass dies der grosse Unterschied zum Tabak sei, für den es keine J-Kurve gäbe. Dier erste Zigarette birgt bereits Schaden und das Risiko zu erkranken wird mit jeder Zigarette mehr.
Biologisch plausible Effekte
Die Erkenntnisse zu Wein und Gesundheit und die damit verbundene J-Kurve beruhen nicht ausschliesslich auf Beobachtungen oder Studien mit geringer Evidenz. Im Gegenteil, kaum ein Lebensstilfaktor erfreut sich an einer solch überzeugenden Datenlage. Zudem sind die Wirkungen biologisch plausibel.
So steht Ethanol in moderaten Dosen für:
Die im Wein enthaltenen Polyphenole …
Die Wirkungen sind in vielen Studien bei Wein deutlicher ausgeprägt als bei den anderen alkoholischen Getränken.
Gesunde Trinkmuster bringt der Professor wie folgt auf den Punkt:
Ganz wichtig war dem Ernährungswissenschaftler Worm, dass der moderate Weinkonsum eingebunden ist in einen gesunden Lebensstil. Nur dann entfalte er seine günstigen Wirkungen.
Dazu gehören:
Fazit:
In Anlehnung an den aktuellen wissenschaftlichen Stand haben Weintrinker ein niedrigeres Risiko für allem voran kardiovaskuläre Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall) sowie Diabetes Typ 2. Diese Effekte sind besonders deutlich, wenn das Glas Wein zum Essen getrunken wird und eingebettet ist in einen gesunden Lebensstil.
Weitere Informationen unter wineinformationcouncil.eu.
(Quelle: Deutsche Weinakademie)