Die Geschichte, wie eine in Deutschland gezüchtete Rebsorte in einen St. Galler Rebberg gelangt, klingt abenteuerlich. Viel Enthusiasmus gehört dazu. Nun keltert die Familie Rutishauser daraus seit drei Generationen eine der spannendsten Weisswein-Spezialitäten der Schweiz.
Martin Cooper führte 1973 in den USA das erste Telefongespräch über ein Mobiltelefon. Die OPEC hob den Ölpreis um 70 Prozent an und löste die erste grosse Ölkrise aus. Ältere Semester erinnern sich noch an die autofreien Sonntage. Am Buchberg in Thal/SG blickte August Rutishauser positiv in die Zukunft und pflanzte zehn Aren Kerner.
August Rutishauser hat die Geschichte der Anfänge seines Rebgutes und die Einführung der Sorte Kerner gut dokumentiert. (Bilder zVg)
Riesling x Silvaner, oder besser Müller-Thurgau, kannte August Rutishauser. Davon hatte er als einer der ersten Winzer am Buchberg in Thal/SG ein paar Aren gepflanzt. Die Reben mit den sattgrünen Blättern, die er ennet dem Bodensee sah, sind dem Gärtner mit Faible für Reben jedoch sofort aufgefallen. Nebst dem kräftigen Wuchs gefielen ihm vor allem die aromatischen Trauben. Die wollte er auch in seinem Rebgarten haben. Nur: so einfach war das damals nicht. Kantonale und nationale Register schrieben vor, welche Rebsorten auf welchen Parzellen angebaut werden durften. Doch Rutishauser liess nicht locker. Zu Händen der Ämter erstellte er einen Projektbeschrieb und erhielt die Bewilligung, um zu Versuchszwecken Kerner anzubauen. Die ersten 1500 Reblein aus Franken (DE) über Österreich nach Thal zu bringen, war ein Abenteuer, das Zoll- und Veterinärämter beschäftigte. Doch im Frühjahr 1973 war es soweit, dass die Reben gepflanzt werden konnten. 1975 kelterte August Rutishauser seinen ersten Kerner-Wein.
Heidi und Christoph Rutishauser, zweite Generation, haben die Geschichte des Kerners mitgeprägt.
Wein mit Frucht und Spannung
Drei Generationen Rutishauser haben es verstanden – und verstehen es noch – das Maximum aus der Sorte herauszuholen. Vielleicht liegt es am tonigen Untergrund. Vielleicht an den nach Süden ausgerichteten Steillagen. Vielleicht aber auch an den rund 1000 Millimeter Niederschlag pro Jahr. Denn Kerner mag Trockenstress nicht so sehr. Vermutliche liegt es aber an der Leidenschaft, mit welcher der Gärtner August Rutishauser die jungen Reblein hegte. Präzise arbeiten auch Christoph und heute Roman in den Reben. Sie wissen, dass guter Wein draussen in der Natur entsteht. Gärt der Most im 3000-Liter-Fass aus dem Jahr 1973, ist «kontrolliertes Nichtstun» angesagt, wie Christoph Rutishauer erklärt. Für Roman Rutishauser ist wichtig, den Wein auf den Feinhefen reifen zu lassen, so dass dieser an Fülle gewinnt. Mit 1,2 Hektaren Kerner ist das grosse Fass zu klein. Deshalb reift ein Teil im Stahltank und ein weiterer Teil in Barriques. Letzteres brachte den Jungwinzer – Roman übernahm den Betrieb 2015 – auf eine Idee. Im gleichen Jahr füllte er erstmals den im Barrique gereifte Teil als «Jungspund» ab. Seine Art der Weinbereitung brachte ihm von Gault Millau den Titel «Rookie oft he year» und «King of Kerner» ein. Zudem ist er unter den besten 150 Weingütern der Schweiz gelistet.
Heute leitet Roman Rutishauser den Familienbetrieb in dritter Generation und hat noch einige Ideen für die Weiterentwicklung der Kerner-Weine.
Seit dem Jahrgang 2022 sind die Flaschen der «Sélection Famille» mit «vinID NFC-Tags» ausgestattet. Diese garantieren die Authentizität der Weine und gewährleisten die Rückverfolgbarkeit jeder einzelnen Flasche – dank neuster Blockchain-Technologie. Nach 50 Jahren Kerner am Buchberg hat Roman Rutishauser noch einige Ideen, wie der den Kerner weiterentwickeln möchte. Fans dieser Sorte dürfen gespannt sein...
Vertikale Verkostung
Mehrere Wege bezeugen die Nobilität eines Weines. Einer ist die bevorzugte Lage einzelner Crus. Ein anderer der konstant hohen Erlös beim Verkauf. Ein dritter Weg braucht etwas Geduld. Denn dabei handelt es sich um das Reifepotenzial. Der Kerner vermochte durchs Band zu überzeugen. Zu den Degustationsnotizen.
Gabriel Tinguely
We S 2530. We steht für Weinsberg und die dort ansässige Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau. S ist das Kürzel für Sorte oder Sämling. 2530 oder die Synonyme 25/30 sowie 25-30 stehen vermutlich für Zeile 25 und Sämling 30. Nebst «We S 2530», der Zuchtnummer, hiess die Rebe bei den Winzern anfangs auch Weisser Herold.
Gezüchtet wurde die Rebe1929 von August Herold aus der ertragreichen roten Trollinger- und der aromatischen Riesling-Rebe. Die neue Sorte ergab viel und sehr säurebetonten Wein. Vielerorts wurden damit milde Weine aufgesäuert. Die Säure war denn mit ein Grund, weshalb die Sorte in Vergessenheit geriet. Später wurde sie nach dem Arzt, Heimatdichter und Weinfreund Justinus Kerner (1787-1862) aus Weinsberg benannt. 1969 erhielt sie den Sortenschutz und wurde im selben Jahr in die Deutsche Sortenliste eingetragen.
In Deutschland wird Kerner auf 2357 Hektaren (2019) angebaut. Es folgen das Südtirol mit 117 (ohne Erhebungsjahr) und die Schweiz mit 25,4 Hektaren (Das Weinjahr 2022). Zahlen für Österreich und Südafrika, wo sie auch angebaut wird, sind nicht bekannt.
Kerner in der Schweiz
Fast zeitgleich wie August Rutishauser in Thal begannen sich auch Winzer aus Dardagny/GE für deutsche Neuzüchtungen zu interessieren. Neben Kerner pflanzten sie Mitte 1970er Jahre auch Scheurebe und Müller-Thurgau. Heute stehen kleinere Parzellen Kerner auch in Basel Landschaft und der Zentralschweiz. Kernling, eine Mutation der Kerner, bauen Michael Burkhart in Weinfelden/TG und Ueli Kilchsperger in Flaach/ZH an.